Der Untergang des sportlichen Abendlandes

Dr. Matthias Marquardt - Blog - Gesellschaft

GESELLSCHAFT

Der Untergang des  sportlichen Abendlandes

Ich würde mich selbst als einen leidenschaftlichen Sportler bezeichnen. Ich will mich und die Elemente spüren, wenn ich Sport treibe. Blut, Schweiß und Tränen! Okay, vielleicht nicht immer, aber Schweiß gehört wenigstens dazu. Ich mag das, was wir Ausdauerdreikampf nennen. Das geht – wie der Blick in eine beliebige deutsche Fußgängerzone verrät – nicht jedem so.



Ich erlebe jeden Tag Menschen, die den Weg zum Kühlschrank und das Halten der Fernbedienung sportlich genug finden. Man hat zahlreiche Tabletten für diese Menschen erfunden. Und Fahrstühle. Ebenso Rolltreppen. Und neuerdings: E­-Bikes!

 

Einzelne mögen die letzte Erfindung bedauern, aber der E­-Bike­-Geist ist aus der Flasche. Der Gedanke, mühelos Rad zu fahren, ist gedacht, und seitdem er technisch umsetzbar ist, nicht mehr einzufangen. Als Internist machen mich die Damen und Herren, die Ihre 15-­Kilometer­-Sonntags runde neuerdings aufrecht sitzend mit einer breitbeinigen Trittfrequenz von 60 Umdrehungen pro Minute bei einer geschätzten Tretleistung von infernalischen 23 Watt absolvieren, allerdings fassungslos. Es handelt sich um nichts weniger als den nächsten großen Schritt in Richtung Diabetes mellitus.

 

Bisher habe ich meine sportinternistische Fassungslosigkeit im Rahmen von Gesprächstherapien bei Triathlonkollegen eigentherapiert. Da gab es noch Verbündete, die, wie ich, mit Oberschenkeln aus Stahl (oder so ähnlich) treten wollten, die sich lieber die Felgenbremse festgestellt hätten, als mit einem Motor zu schummeln. Aber zu Zeiten der politischen Korrektheit wird mir diese Therapie zunehmend versagt. Alle haben Verständnis für alles. Mittlerweile sogar Triathleten für E­-Bikes. Ein Totschlagargument nach dem anderen versaut mir meine triathletische Therapiestunde: „Besser, als wenn sie gar nicht führen.“ „Man könne ja auch auf dem E-­Bike selbst treten.“ „Bei gesundheitlichen Problemen sei das oft die einzige Möglichkeit, überhaupt Rad zu fahren.“ „Sonst würden die vielleicht Auto fahren, das wäre doch noch schlechter.“

 

Au Backe. So ist es auch kein Wunder, dass ein Schweizer Kolumnistenkollege kürzlich dem geschätzten Bergvolk – ernsthaft! – erklärte, dass Fahren mit dem E-­Bike bei 50 Prozent Unterstützung durch den Motor doppelt so lange durchgeführt werden muss wie beim Fahren ohne Unterstützung, um den gleichen Trainingseffekt zu erlangen. Holla, die Waldfee! Jetzt sind wir ganz unten, dachte ich. Waren wir aber noch gar nicht. Kürzlich erklärte mir nämlich ein über alle Maßen fitter und kerngesunder sportärztlicher Kollege, dass er morgen mit dem  E­-Bike „trainieren“ würde. Seine Frau, die immer langsamer war als er, sei mit ihrem neuen E­-Bike am Berg schneller als er. Also musste er nachziehen. Natürlich würde er aber meist nur die Unterstützung vom Motor wählen, die das Mehrgewicht des Rades ausgleiche (außer am Berg natürlich!). Und überhaupt sei ein E­-Bike super. Seine Kinder hätten jetzt auch welche, damit sie auf dem Weg in die Schule nicht schwitzten. Sagt der Sportarzt. Ich entgegnete, politisch super korrekt: „Klasse, das ist ja viel besser, als wenn sie mit dem Bus fahren.“ Und bekam ein zustimmendes Nicken.

 

Nach Hause gefahren bin ich mit meinem Treckingrad. 27 Gänge. Zwei Beine. Muskeln aus Stahl (oder so ähnlich). Und ich will, dass das so bleibt.

 

Ihr Dr. Matthias Marquardt

 

MEIN TIPP:

Jede Aktivität zählt. Insbesondere im Alltag können wir in einer zunehmend lebensfeindlichen Umwelt durch Bewegung unsere Gesundheit verbessern. Deshalb: Treppe statt Fahrstuhl und Fahrrad statt E­-Bike!


Einmal im Monat schreibt der bekannte Internist und Laufexperte Dr. Matthias Marqardt im Triathlon-Magazin eine Kolumne zu kontroversen Themen des Laufsports.

 

 www.tri-mag.de



Download
Marquardts Meinung -- Der Untergang des sportlichen Abendlandes
t142_marquardtsMeinung_untergang.pdf
Adobe Acrobat Dokument 59.4 KB